ORGANISIERTE

PERSPEKTIVLOSIGKEIT

Bulgarien: Unscheinbarer Türsteher Europas

Ergebnisse unserer Recherchereise nach Bulgarien

Im September 2024 haben wir eine Recherchereise nach Bulgarien unternommen, um die Situation von Geflüchteten zu dokumentieren, die eine Dublin-Abschiebung nach Bulgarien erfahren haben. Bulgarien ist einer der Zielstaaten von Dublin-Abschiebungen, die innerhalb der EU (meist in Länder an der EU-Außengrenze) vorgenommen werden. Derzeit erreichen uns täglich zum Teil verzweifelte Anfragen von betroffenen Geflüchteten, ihren Unterstützer:innen oder Beratungsstellen und Rechtsantwält:innen auf der Suche nach Kirchenasyl, um eine Abschiebung nach Bulgarien noch zu verhindern. Gemeinsam mit Aktiven aus den Kirchenasyl-Netzwerken in Berlin-Brandenburg und Bayern sowie begleitet von einer Redakteurin der Süddeutschen Zeitung waren wir darum vor Ort, um uns selbst ein Bild von der Perspektivlosigkeit zu machen, in der diese Menschen sich wiederfinden. Hier geben wir erstmals Einblick in die Ergebnisse unserer Recherchen, die die Auswirkungen der europäischen Entrechtungspolitik auf das Leben von Dublin-Rückkehrer:innen in Bulgarien zeigen. Unseren ausführlichen Bericht, der auch juristisch verwertet werden soll, können Sie hier nachlesen.


Zehn Tage lang waren wir in der Hauptstadt Sofia sowie in Harmanli an der türkisch-bulgarischen Grenze, wo sich das größte Lager des Landes befindet, und haben Interviews mit Vertreter:innen NGOs und Behörden, Anwält:innen und mit aus Deutschland abgeschobenen Geflüchteten geführt. Konkret haben wir dabei drei spezifische Konstellationen untersucht:

  1. Wie ist die Situation für Dublin-Rückkehrer*innen, deren Asylverfahren nach Ausreise in Bulgarien eingestellt wurde?

  2. Wie ist die Lebenssituation für in Bulgarien bereits Anerkannte?

  3. Welche Perspektive haben abgelehnte Asylbewerber*innen?

Die Ergebnisse unserer Recherchen sind erschütternd. Zu kritisieren sind aber nicht nur die bulgarischen Behörden, da diese letztlich im Interesse der Europäischen Union mit dem Außengrenzschutz-Management befasst sind. In erster Linie gilt unsere Kritik vielmehr den Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der deutschen Verwaltungsgerichte, die vor der strukturell entwürdigenden Behandlung von Dublin-Rückkehrer*innen in Bulgarien aktiv die Augen verschließen – und sie damit mittragen, anstatt Abschiebungen dorthin auszusetzen.

Mangelernährung, Krätze, Disziplinierung

Wer in einem bulgarischen Aufnahmezentrum untergebracht wird, muss dort mit schlechten Bedingungen zurechtkommen. Wir haben das Lager Voenna Rampa in Sofia sowie das Lager in Harmanli im Süden des Landes besucht und uns einen Eindruck von den dortigen Lebensbedingungen gemacht. Außerhalb der Camps konnten wir dort direkt mit Bewohner:innen Gespräche führen; teilweise haben diese uns im Anschluss an unsere Gespräche Fotos aus den Unterkünften zugespielt. Die Berichte der Betroffenen und die uns zugespielten Bilder zeigen ein deutlich anders Bild als die offiziellen Führung, in deren Rahmen man uns nur die vorzeigbaren Bereiche der Aufnahmezentren gezeigt hatte (wie zum Beispiel die Abteilung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge).

Zum einen ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln in den Lagern sehr schlecht. Viele Bewohner:innen klagten über Mangelernährung. Es gibt kaum Obst, Gemüse oder Milchprodukte, da das gesetzlich veranschlagte Budget für das Catering pro Person am Tag lediglich rund 3 Euro beträgt. Im Lager in Harmanli ist noch nicht einmal frisches Trinkwasser vorhanden, sondern es muss das Leitungswasser im Toilettenraum entnommen werden – welches aber erhöhte Werte von Giftstoffen enthalte. Nur wer Bargeld zur Verfügung hat, kann im Supermarkt Trinkwasser kaufen. Da es morgens keine Ausgabe von Lebensmitteln gibt (nur mittags und spätnachmittags) wird das Frühstück bereits mit dem Abendessen um 16 Uhr verteilt. Jugendliche berichteten uns in diesem Zusammenhang von der Ausgabe von gefrorenem Brot, das sie erst am nächsten Morgen zum Frühstück essen sollten.

Des Weiteren ist die Hygiene in Harmanli insbesondere in den Abteilungen für alleinreisende Männer katastrophal. Sanitäre Anlagen, aber auch Schlafsäle sind verdreckt und baufällig. Die Toiletten haben keine Türen und es gibt kaum funktionierende Duschen. Aufgrund der eng belegten Zimmer leiden die meisten Bewohner:innen massiv unter Bettwanzen und Krätze sowie den dadurch verursachten Entzündungen, die nicht ausreichend behandelt werden.

Zwar gibt es eine dermatologische Sprechstunde. Angesichts der zum Zeitpunkt unseres Besuches rund 800 Bewohner*innen hat diese jedoch nicht annähernd ausreichende Kapazitäten. Dies trifft auch auf die allgemeinmedizinische Versorgung zu, die ebenfalls mangelhaft ist. Eine Überweisung an Fachärzt*innen und Kliniken findet nur in seltenen Fällen statt.

Notdürftig aufgefangen wird all dies von zwei engagierten Hilfsorganisationen. Aufgrund der schlechten Bedingungen im Lager verteilen sie außerhalb des Lagers in einem Park Essen, sauberes Wasser und Medikamente und behandeln unter anderem die Krätze sowie andere Erkrankungen.

Viele der in Harmanli lebenden syrischen Geflüchteten werden außerdem wegen ausstehender Schulden an die Fluchthelfer auch innerhalb der Lager bedroht. Es gibt immer wieder Auseinandersetzungen, in deren Folge das Aufsichtspersonal und die Polizei brutal Gewalt anwenden. Entwürdigende Gewalt wird jedoch auch als Disziplinierungsmittel gegen Personen eingesetzt, die bei der Essensausgabe neben der Schlange stehen oder abends nach Torschluss verspätet ins Lager zurückkehren wollen.

Ihr Beitrag gegen die organisierte Perspektivlosigkeit: Jetzt spenden!

–––

Ihr Beitrag gegen die organisierte Perspektivlosigkeit: Jetzt spenden! –––

Gegen die Perspektivlosigkeit.

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrer Spende.

Unsere Recherchen in Bulgarien konnten wir nur dank der großzügigen Unterstützung unserer Spender:innen durchführen. Die Ergebnisse zeigen erneut, wie wichtig die Praxis des Kirchenasyls als häufig letztmöglicher Schutz vor einer Abschiebung nach Bulgarien ist.

Wenn Sie auch nicht tatenlos mit ansehen wollen, wie in Europa das Menschenrecht auf die Seite gestellt wird, unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrer Spende. Gemeinsam stehen wir gegen die organisierte Perspektivlosigkeit ein – und für das Recht, Rechte zu haben.

Türsteher für die Festung Europa

Bulgarien verfügt über eine hunderte Kilometer lange EU-Außengrenze mit der Türkei. Dort kommt es immer wieder zu massiver Gewalt gegen Geflüchtete, die versuchen, den 600 km langen Grenzzaun in die EU zu überwinden, und Pushbacks erfahren.

Der NGO Mission Wings zufolge, die Dokumentationsarbeit der Gewalt durch den Grenzschutz leistet und Leichenidentifizierungen von zu Tode Gekommen vornimmt, gab es an hier allein im Jahr 2023 über 50 Todesfälle, die der bulgarische Grenzschutz und die europäische Grenzschutzagentur Frontex mitzuverantworten haben.

Nach der Einreise werden ausnahmslos alle Geflüchtete, die den Grenzübertritt geschafft haben, zunächst gewaltsam und unter entmenschlichenden Bedingungen inhaftiert (z.B. ist nachts kein Toilettengang möglich und es gibt massive Gewalt durch das Wachpersonal) und erst nach der Registrierung in ein offenes Aufnahmezentrum verlegt.

Im Gespräch mit der Leitung der bulgarischen Migrationsbehörde SAR hat man uns selbstbewusst berichtet, man sei im Sinne der EU effektiv in der Einreiseabwehr und beteilige sich engagiert bei der Erstregistrierung sowie der Rücknahme von Dublin-Abgeschobenen, was Bulgarien am 31.03.2024 eine Mitgliedschaft im Schengenraum beschert hat. Zugleich setzt der bulgarische Staat alles daran, dass die rechtlichen und sozialen Bedingungen für Geflüchtete faktisch so schlecht sind, dass Bulgarien ein Transitland bleibt.

Aus diesem Grund wird der Aufbau menschenwürdiger Lebensverhältnisse für Migrant:innen und Geflüchtete in Bulgarien politisch nicht durchgesetzt. Wer hier als schutzbedürftig anerkannt wird, findet sich strukturell im Elend wieder – seit Jahren wird in dem Land eine „Zero-Integration-Politik“ verfolgt.

Zero-Integration-Politik

Nach einer relativ zügigen Anerkennung (vor allem von Syrer:innen) geraten die meisten in prekäre Wohnverhältnisse oder sind obdachlos, da sie binnen 14 Tagen nach der Anerkennung das Aufnahmezentrum verlassen müssen. Eine Wohnung zu finden ist aufgrund hoher bürokratischer Hürden nahezu unmöglich. Eine Meldeadresse ist wiederum notwendige Voraussetzung für einen festen Arbeitsvertrag und einen Personalausweis. Zwar gibt es eine kostengünstige Krankenversicherung, es ist jedoch verpflichtend sich bei einer Hausarztpraxis zu akkreditieren, was wiederum nahezu unmöglich ist, da die Praxen wegen der hohen Fluktuation von Migrant:innen keine freien Plätze für diese anbieten. Der auf dem Papier grundsätzlich mögliche Krankenversicherungsschutz ist für in Bulgarien Anerkannte damit in Wirklichkeit so gut wie unmöglich. Insofern haben die Betroffenen nur notfallmäßig zu medizinischer Zugang.

Ähnlich sieht es auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt aus. Dieser ist für Anerkannte zwar prinzipiell möglich. Da Ausländer:innen in Bulgarien jedoch aus Gründen der EU-Geldwäscheprävention in der Regel kein Bankkonto eröffnen können, können Sie oftmals keine festen Arbeitsverhältnisse eingehen. Aus diesem Grund arbeiten viele in informellen Arbeitsverhältnissen ohne Sicherheiten wie z.B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die Konsequenzen sind schlechte Arbeitsbedingungen, Tagesanstellungen, Arbeitsunfälle und miserable Bezahlung. Zudem leben die meisten Dublin-Rückkehrer:innen mit einem bulgarischen Schutzstatus, mit denen wir gesprochen haben, in extrem überbelegten Wohnungen.

Diese staatlich verordnete Perspektivlosigkeit führt dazu, dass viele in einer verzweifelten Lage steckenbleiben – im Wissen, dass kein anderer europäischer Staat sie aufnehmen wird, was die meisten jedoch verständlicherweise nicht von einer Weiterreise abhält. In einem Interview in Sofia sprachen wir beispielsweise mit einem völlig abgemagerten, hungrigen jungen Mann aus Syrien, der vor einigen Monaten aus Deutschland abgeschoben wurde und nun versucht, sich Zukunftsoptionen zu eröffnen. Ob und wie ihm dies gelingen mag, ist unklar. Zum Glück erfährt er Solidarität aus der syrischen Community. So wie ihm geht es Tausenden.

Menschenrechtsarbeit unter erschwerten Bedingungen

Die Arbeit von NGOs findet in Bulgarien unter schwierigen politischen und ökonomischen Bedingungen statt. Die meisten finanziellen Förderungen erhalten Organisationen aus anderen europäischen Ländern, EU-Mittel werden immer weiter zusammengestrichen. Wir haben sehr überzeugte und engagierte Menschen kennenlernen können, die in verschiedenen NGOs oft über ihre eigenen Belastungsgrenzen für Menschenrechte kämpfen. Zugleich sind sie Sachzwängen unterworfen. So beendet „Ärzte ohne Grenzen“ sein medizinisches Programm im Lager Harmanli, weil sie nur eine Anschubhilfe leisten können. Ob andere Organsationen dies nun weiterführen werden, ist fraglich.

Insgesamt ist auffällig, dass es nur ein sehr geringes zivilgesellschaftliches Engagement in der Solidarität mit Geflüchteten und noch weniger politischen Ausdruck gegen das Grenzregime vorhanden sind. Beides liegt sicherlich auch daran, dass es eine stark vom bulgarischen Staat reglementierte Presselandschaft gibt und die politischen Verhältnisse insgesamt sehr instabil sind. Viele progressive Kräfte haben das Land verlassen, was eine internationale Kooperation mit Akteur:innen in Bulgarien erschwert.

Fazit

In BAMF-Bescheiden oder Gerichtsentscheidungen ist häufig von einem grundsätzlichen Zugang Geflüchteter in Bulgarien zu Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Rechtsmitteln, Bildung etc. die Rede, weshalb Dublin-Überstellungen bedenkenlos möglich seien und lediglich andere soziale Standards als in anderen EU-Staaten gelten würde. Unsere Recherche belegt, dass dies vollständig die Tatsache ignoriert, dass der Zugang zu diesen Grundrechten faktisch jedoch überhaupt nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben ist. Vielen Begegnungen mit Betroffenen von dieser Entrechtungspraxis haben uns dies sehr deutlich vor Augen geführt. Abschiebungen nach Bulgarien führen Menschen in die Verelendung und müssen beendet werden.

Kirchenasyl bleibt notwendig

Die Forderung nach “konsequenten Abschiebungen” bekommt momentan so gut wie keine Gegenwehr. Das hat die aktuell auch von der Bundesregierung aufgeheizte Debatte über Migration, Grenzverteidigung und Grundrechtskürzungen für Geflüchtete erneut gezeigt. Umso wichtiger ist nach wie vor das Kirchenasyl als eine konkrete Praxis des Menschenrechtsschutzes und oft letzte Möglichkeit für Geflüchtete, eine Abschiebung in einen Dublin-Staat wie Bulgarien noch zu verhindern.